Beschluss vom 16.12.2024 -
BVerwG 3 B 14.23ECLI:DE:BVerwG:2024:161224B3B14.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 16.12.2024 - 3 B 14.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:161224B3B14.23.0]

Beschluss

BVerwG 3 B 14.23

  • VG Freiburg - 19.05.2022 - AZ: 4 K 1539/21
  • VGH Mannheim - 16.03.2023 - AZ: 1 S 2527/22

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. Dezember 2024
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann und Hellmann
beschlossen:

  1. Den Klägern wird wegen der Versäumung der Frist für die Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. März 2023 und wegen der Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
  2. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg über die Nichtzulassung der Revision in seinem Beschluss vom 16. März 2023 wird aufgehoben.
  3. Die Revision wird zugelassen.
  4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
  5. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren vorläufig auf 10 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Die Kläger begehren die Feststellung, dass die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in den Fußgängerbereichen der Freiburger Innenstadt gemäß Ziffer 1 der Allgemeinverfügungen des Landratsamtes Breisgau-Hochschwarzwald über infektionsschutzrechtliche Maßnahmen in der Stadt Freiburg im Breisgau zur Verhinderung der weiteren Verbreitung des Virus SARS-CoV-2 vom 15. April 2021 und vom 14. Mai 2021 rechtswidrig gewesen ist.

2 Das Verwaltungsgericht Freiburg hat die Klagen durch Urteil vom 19. Mai 2022 abgewiesen und die Berufung zugelassen. Mit Beschluss vom 10. Januar 2023 hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg den Klägern für das beabsichtigte Berufungsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt. Der Beschluss enthält folgenden Hinweis:
"Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 2 Satz 1 VwGO innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils einzulegen. Für das Berufungsverfahren besteht nach § 67 Abs. 4 VwGO Vertretungszwang. Mit der Zustellung des vorliegenden Beschlusses fällt die durch das Unvermögen, die Prozesskosten aufzubringen, verursachte unverschuldete Verhinderung, die Rechtsmittelfrist einzuhalten, weg. Dies gilt auch für Kläger, die - wie hier - im Prozesskostenhilfeantrag keinen beizuordnenden Prozessbevollmächtigten benannt haben. Ihnen obliegt es, in der durch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ausgelösten Wiedereinsetzungsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO alles Zumutbare zu tun, um einen vertretungsbereiten Prozessbevollmächtigten zu finden, und - sofern dies erkennbar nicht gelingt - bei Gericht bis zum Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist einen Antrag nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 121 Abs. 5 ZPO auf Beiordnung eines Rechtsanwalts durch den Vorsitzenden zu stellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 28.07.1999 - 9 B 333.99 - DVBl. 1999, 1662; Beschl. v. 28.01.2004 - 6 PKH 15.03 - NVwZ 2004, 888)."

3 Nach Anhörung der Beteiligten hat der Verwaltungsgerichtshof durch Beschluss vom 16. März 2023 die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts als unzulässig verworfen. Mit der Zustellung des Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses am 12. Januar 2023 sei der Hinderungsgrund für die Einlegung der Berufung weggefallen. Die zweiwöchige Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1, Satz 3 VwGO zur Nachholung der versäumten Berufungseinlegung habe danach mit Ablauf des 26. Januar 2023 geendet. Die Frist beginne nicht erst mit der gerichtlichen Beiordnung eines vertretungsbereiten Rechtsanwalts. Einen Antrag nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 121 Abs. 5 ZPO hätten die Kläger nicht gestellt. Innerhalb der Frist hätten sie die Berufung nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form eingelegt. Der per Fax am 27. Januar 2023 beim insoweit unzuständigen Verwaltungsgerichtshof eingegangene Berufungsschriftsatz habe nicht der nach § 55d VwGO vorgeschriebenen Form der Einreichung als elektronisches Dokument genügt. Die vorgenommene Ersatzeinreichung sei unwirksam gewesen.

4 Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision gegen seinen Beschluss nicht zugelassen. Die Kläger haben unter dem 1. April 2023 einen Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gestellt. Durch Beschluss des Senats vom 27. Juni 2023 - BVerwG 3 PKH 1.23 - ist ihnen Prozesskostenhilfe bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet worden. Daraufhin haben sie mit anwaltlichem Schriftsatz die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt, sie mit gesondertem Schriftsatz begründet und Wiedereinsetzung in die Einlegungs- und Begründungsfrist beantragt.

II

5 Den Klägern ist nach § 60 Abs. 1 und 2 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

6 1. Wegen ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse waren sie ohne Verschulden verhindert, eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision innerhalb der Frist des § 133 Abs. 2 Satz 1 VwGO gemäß § 67 Abs. 4 Satz 1 und 2 VwGO durch einen Rechtsanwalt einzulegen. Nachdem ihnen durch den Beschluss des Senats vom 27. Juni 2023 - BVerwG 3 PKH 1.23 - (zugestellt am 5. Juli 2023 <Prozessbevollmächtigter> bzw. am 6. Juli 2023 <Kläger>) Prozesskostenhilfe bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist, haben sie am 14. Juli 2023 und damit innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1, Satz 3 VwGO durch ihren beigeordneten Rechtsanwalt Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

7 2. Mit Schriftsatz vom 15. August 2023, beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen am 16. August 2023, haben sie durch ihren beigeordneten Rechtsanwalt die Beschwerden begründet und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Damit liegen auch die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdebegründungsfrist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO vor. Insbesondere haben die Kläger den Wiedereinsetzungsantrag rechtzeitig gestellt.

8 a) Die einmonatige Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2, Satz 3 VwGO dürfte allerdings nicht - wie die Kläger vortragen - wegen der ihrem Prozessbevollmächtigten am 24. Juli 2023 gewährten Akteneinsicht erst am 24. August 2023 geendet haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird bei Wegfall eines Hindernisses für die Rechtsmitteleinlegung noch innerhalb der Rechtsmittelfrist nicht von diesem Zeitpunkt an die Rechtsmittelfrist neu ‌oder ohne Weiteres eine zusätzliche Frist entsprechend § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO in Lauf gesetzt. Es kommt vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls an, ob eine über die Rechtsmittelfrist hinausreichende zusätzliche Frist einzuräumen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 2013 - 10 B 10.13 - juris Rn. 7 m. w. N.). Diese Maßgaben dürften für den Wegfall eines Hindernisses innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2, Satz 3 VwGO entsprechend gelten. Danach käme die Einräumung einer zusätzlichen Frist hier nicht in Betracht. Dass es dem Prozessbevollmächtigten der Kläger in den verbleibenden Arbeitstagen bis zum (unterstellten) Fristablauf am 7. August 2023 nicht möglich gewesen wäre, eine den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügende Beschwerdebegründung zu fertigen, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Frage bedarf jedoch keiner abschließenden Klärung, weil den Klägern ungeachtet dessen Wiedereinsetzung zu gewähren ist.

9 b) Ob die Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2, Satz 3 VwGO mit der Zustellung eines die Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses beginnt - so dass sie hier am Montag, 7. August 2023 geendet hätte - oder aber zu einem späteren Zeitpunkt, ist ungeklärt. Gleiches gilt für die Frage, ob sie im Fall der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde über ihren Wortlaut hinaus zu verlängern ist:
Der Bundesfinanzhof hat zu der mit § 60 VwGO gleichlautenden Vorschrift des § 56 FGO entschieden, dass hinsichtlich der Wiedereinsetzungsfrist für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde analog § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO eine Frist von zwei Monaten ab Zugang des Beschlusses über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gilt (BFH, Beschlüsse vom 22. März 2012 - XI B 1/12 - ‌BFH/NV 2012, 1170 Rn. 14 und vom 24. August 2022 - X B 31/21 - BFH/NV 2022, 1290 Rn. 12). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO - der § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 VwGO entspricht - dahin auszulegen, dass bei auch versäumter Rechtsmitteleinlegungsfrist die Frist zur Nachholung der Rechtsmittelbegründung erst mit der Mitteilung der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Rechtsmitteleinlegungsfrist beginnt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Juni 2007 - XI ZB 40/06 - BGHZ 173, 14 Rn. 13 ff. und vom 30. April 2014 - III ZB 86/13 - NJW 2014, 2442 Rn. 8 f. m. w. N.; ebenso BAG, Urteil vom 21. Dezember 2017 ‌- 8 AZR 853/16 - BAGE 161, 245 Rn. 17 m. w. N.; offengelassen von BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - XII ZB 169/12 - NJW 2013, 471 Rn. 12 ff.). Bei einer entsprechenden Auslegung von § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO wäre die Nachholung der Beschwerdebegründung hier rechtzeitig erfolgt, weil am 16. August 2023 der Antrag der Kläger auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Beschwerdefrist nicht beschieden gewesen ist und auch eine zweimonatige Frist ab Bekanntgabe des Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses vom 27. Juni 2023 analog der Beschwerdebegründungsfrist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO gewahrt wäre (eine solche Auslegung befürwortend: z. B. Bier/​Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch/​Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Januar 2024, § 60 VwGO Rn. 65; Czybulka/​Kluckert, in:‌ Sodan/​Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 60 Rn. 128; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 60 Rn. 38). Allerdings begegnet die Auslegung Bedenken, weil sie im Wortlaut des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO keine Stütze findet. Auch die Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 15/1508 S. 17 f., BT-Drs. 15/3482 S. 23) sind insoweit nicht eindeutig (vgl. für § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO: BGH, Beschluss vom 11. Juni 2008 - XII ZB 184/05 - NJW-RR 2008, 1313 Rn. 13 ff.).

10 Die Frage bedarf hier keiner abschließenden Klärung. Nimmt man an, dass die Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2, Satz 3 VwGO - angesichts der Zustellung des die Prozesskostenhilfe für die Nichtzulassungsbeschwerde bewilligenden Beschlusses am 5. bzw. 6. Juli 2023 - am Montag, 7. August 2023, endete, so ist die am 16. August 2023 eingegangene Beschwerdebegründung verfristet. Den Klägern wäre aber jedenfalls von Amts wegen Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist zu gewähren. Angesichts der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung und Literatur wäre die Säumnis unverschuldet.

III

11 Die zulässigen Beschwerden sind begründet.

12 1. Zwar ist die Revision nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen der geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) durch Nichtgewährung von Akteneinsicht zuzulassen. Die Gehörsrüge ist nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise erhoben. Die Kläger legen mit ihrem Beschwerdevorbringen nicht dar, dass durch die Nichtgewährung der Akteneinsicht im Berufungsverfahren entscheidungserheblicher Vortrag verhindert worden wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. August 2019 - 1 B 64.19 - juris Rn. 31). Darüber hinaus zeigen sie nicht auf, dass sie alle verfahrensrechtlich eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten ausgeschöpft hätten, sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. November 2006 - 10 B 48.06 -‌ juris Rn. 5 m. w. N.). Ihr Prozessbevollmächtigter hat in seiner Stellungnahme auf die Mitteilung des Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Februar 2023 (Anhörung nach § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO) nicht an den unerledigten Antrag auf Akteneinsicht erinnert.

13 2. Jedoch kommt der Rechtssache die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zu. Das Revisionsverfahren kann dem Bundesverwaltungsgericht voraussichtlich Gelegenheit zur Klärung der Frage geben, ob das der Rechtsverfolgung entgegenstehende Hindernis gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO bei Mittellosigkeit und einem dem Anwaltszwang unterliegenden Verfahren erst weggefallen ist, wenn der Partei nicht nur Prozesskostenhilfe bewilligt, sondern auch ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. April 2014 - 5 B 102.13 - juris Rn. 7 <Wegfall des Hindernisses der Mittellosigkeit mit Zustellung der Prozesskostenhilfe gewährenden Entscheidung>; abweichend zu § 234 Abs. 2 ZPO: BGH, Beschlüsse vom 27. August 2019 - VI ZB 32/18 - NJW 2019, 3727 Rn. 5 m. w. N. und vom 9. Juli 2020 - V ZR 30/20 - ‌NJW 2021, 242 Rn. 5 <Beseitigung des Hindernisses erst mit der Beiordnung>).

14 Die vorläufige Festsetzung des Streitwerts für das Revisionsverfahren beruht auf § 63 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 47 Abs. 1 und § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

Rechtsbehelfsbelehrung


Das Beschwerdeverfahren wird als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 3 C 15.24 fortgesetzt. Der Einlegung einer Revision durch die Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einzureichen.
Für die Beteiligten besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Revision. Die Beteiligten müssen sich durch Bevollmächtigte im Sinne von § 67 Abs. 4 Satz 3 bis 6 VwGO, § 5 Nr. 6 Alt. 2 RDGEG vertreten lassen.